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Der kleine Tag
von Wolfram Eicke
Es war einmal ein kleiner Tag. Er lebte mit seinen Eltern und
Geschwistern dort, wo alle Tage leben, bevor sie auf die Erde kommen,
und wo sie auch nachher bleiben, wenn die Nächte sie wieder
von
der Erde verscheucht haben. Kein Mensch weiß, wo dieser Ort
ist,
denn wer könnte schon sagen, wo die Tage bleiben, wenn sie
ihren
Dienst erfüllt haben? Jeder von ihnen kommt nur ein einziges
Mal
auf die Erde. Ein Tag ist einmalig. Und so ist es natürlich
der
Höhepunkt im Leben eines Tages, wenn er auf die Welt zu den
Menschen kommt.
Unser kleiner Tag, von dem hier die Rede ist, war
voller Aufregung und Freude, wenn er an den so wichtigen Zeitpunkt
seiner Erdenreise dachte. Aber er mußte noch lange warten,
denn
er würde der 22. November eines ganz bestimmten Jahres sein,
und
es war erst Septmber im Jahr davor. Vordrängeln konnte er sich
nicht, denn die Reihenfolge, in der die Tage die Welt betreten, ist
streng festgelegt. So konnte der kleine Tag nur von seinem
zukünftigen Erdengang träumen, und mit staunenden
Augen
hörte er zu, wenn seine Verwandten von ihrem Besuch auf der
Erde
erzählten.
Sein Vater war ein sehr berühmter und
gefürchteter Tag gewesen, an dem sich ein grauenhaftes
Erdbeben
ereignet hatte, das die Menschen noch Jahrzehnte später nicht
vergessen konnten. "Die ganze Welt zitterte", erzählte sein
Vater
stolz, "und ich bin in allen Geschichtsbüchern
erwähnt."
Seine Mutter wurde von den anderen Tagen ebenfalls sehr respektvoll
behandelt. Als sie Tag war, hatten zwei Völker nach einem
langen
Krieg endlich Frieden geschlossen. Immer wieder wollte der kleine Tag
hören, wie sich damals die Menschen lachend und weinend vor
Freude
umarmten und wie schön dieser Tag gewesen sei. Ein Onkel war
sehr
stolz darauf, daß er die erste Landung eines Raumschiffes auf
einem fernen Planeten gebracht hatte, und seine Großmutter
konnte
gar nicht genug von der Hochzeit eines Königspaares
erzählen,
die mit großer Pracht gefeiert wurde, als sie Tag war.
Jeden
Abend, wenn ein Tag von der Erde zurückkam, mußte er
genau
berichten, was sich während seiner Amtszeit ereignet hatte.
Voller
Begeisterung hörte der kleine Tag Erzählungen von
ruhmreichen
Taten, Erfindungen und großen Festen, aber auch von
Schneekatastrophen, Dürre- und Hungerzeiten, von
Flugzeugabstürzen, Explosionen und Gewalttaten. "Es ist ganz
wichtig", sagte sein Vater eines Tages, "daß etwas
Ungewöhnliches passiert, wenn Du auf der Erde bist, damit man
sich
an dich erinnert. Sonst ist dein ganzes Leben sinnlos. Dabei kommt es
gar nicht darauf an, ob es etwas Gutes oder Böses geschieht.
Hauptsache, du hinterläßt einen bleibenden Eindruck
auf die
Menschen." "Wenn ich einmal auf der Erde bin," dachte der kleine Tag,
"dann wird sicherlich etwas ganz, ganz Großes geschehen,
etwas,
was es noch nie gegeben hat. Nicht nur ein kümmerliches
Erdbeben
oder die Hochzeit eines Königspaares. Nein, 100
Könige sollen
gleichzeitig heiraten, alle Völker der Erde sollen Frieden
schließen und versprechen, niemals wieder Krieg zu
führen.
Es wird ein gewaltiges Feuerwerk geben, weil die Menschen alle Waffen
in die Luft sprengen werden. Auf jedem Stern im Weltall landet ein
Raumschiff, eine riesige Flutwelle überschwemmt die
Hälfte
der Erde, und, und ,und..." So träumte der Kleine Tag
unaufhörlich, und es fiel ihm immer schwerer, seinen
großen
Auftritt abzuwarten. Schließlich, nach scheinbar endlosen
Monaten
und Wochen des Wartens, war der große Augenblick gekommen.
Es war stockfinster, als der Vater den kleinen Tag rief: "Es ist
soweit. In einer halben Stunde beginnt der 22. November. Gleich bist Du
ein Tag auf der Erde!" Sein Vater begleitete ihn noch ein
Stück,
damit er den richtigen Weg fand, und dann war es soweit! Schrittweise
zog sich die Nacht vor dem kleinen Tag zurück, bis sie ganz
verschwunden war. Der kleine Tag jubelte: "Jetzt regiere ich die Welt!"
Aber schon bald erlebte er die erste Enttäuschung. Die
strahlend
goldene Sonne. von der sein Vetter im Juli so geschwärmt
hatte,
war nirgends zu sehen. Grauer Nebel verhüllte die
frühen
Morgenstunden. Alles sah trübe und dunstig aus, feucht und
kalt.
Der kleine Tag wollte sich aber nichts daraus machen, es gab doch
soviel Neues, Fremdes und Aufregendes zu sehen.
In allen Städten
wälzten sich Tausende von Menschen durch die Straßen
zu
ihrer Arbeitsstelle. Autokolonnen, Busse, Züge, Bahnen - alles
drängte, schob und wimmelte. Der kleine Tag mußte
lachen: Es
sah zu lustig aus, wie sie da unten alle in verschiedenen Richtungen
durcheinanderkrabbelten. Er betrachtete die Menschen genauer. Nein,
freundlich sahen sie nicht aus! Die meisten hasteten mürrisch
und
lustlos durch die Straßen, hatten die Mantelkragen
hochgeschlagen
und sahen grimmig geradeaus oder zum Boden. Niemand schien den kleinen
Tag zu beachten. "Hallo, hier bin ich!" rief er. "Ich bin heute euer
Tag! Freut ihr euch nicht, mich zu sehen?" Aber die Menschen freuten
sich nicht.
"Was für ein lausiger Tag", sagte ein Mann zu seinem
Arbeitskollegen. "Dieser widerliche Nieselregen geht mir ganz
schön auf die Nerven." "Ja, abscheulich", bestätigte
der
andere. "Meine Frau bekommt sicher wieder die Grippe bei diesem Wetter.
Wenn doch bloß die Sonne ein wenig scheinen würde!"
Ja, die
Sonne! Wo war sie? Der kleine Tag konnte sie nirgendwo entdecken.
"Bitte, liebe Sonne", rief er, "komm doch hervor und mache die Welt an
meinem Tag etwas schöner, damit die Menschen nicht alle so
grimmig
sind." "Das kann ich nicht", sagte die Sonne, die von einer graufetten
Regenwolke verdeckt wurde. "Ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Komm im
Frühling oder besser noch im Sommer wieder, dann will ich
so scheinen, daß deine Augen geblendet werden. Aber im
November
bin ich dazu zu schwach." Der kleine Tag war ganz verzweifelt. "Aber
ich bin doch nur heute!" rief er. "Ich kann doch nicht wiederkommen.
Nie kann ich wiederkommen. Im Frühling und im Sommer sind die
anderen dran. Bitte, liebe Sonne, schein doch wenigstens ein ganz
kleines bißchen!" Die Sonne hatte Mitleid mit ihm. Mit aller
Kraft preßte sie ein paar dünne Strahlen hervor. Der
kleine
Tag hatte so etwas noch nie gesehen. Er sah verzückt und
verzaubert, wie die Sonnenstrahlen auf einen Waldweg fielen und sich
das Licht in den Regentropfen spiegelte. "Hurra!" rief der kleine Tag,
"freut ihr euch jetzt, daß ich hier bin?" Doch die Sonne
hatte zu
kurz geschienen. Kaum ein Mensch in der Stadt hatte die wenigen
Sonnenstrahlen bemerkt, und jetzt war es wieder so grau wie zuvor.
Allerdings regnete es nicht mehr, und der Nebel hatte sich
aufgelöst. "Immerhin etwas", tröstete sich der kleine
Tag.
Aber ein wenig traurig war er trotzdem noch.
Doch was war das? Auf
einem Schulhof stand ein Junge mit einem funkelnagelneuen Fahrrad,
umringt von seinen Klassenkameraden. "Woher hast Du denn das tolle
Rad?" fragte einer von ihnen. "Na, wißt ihr denn nicht, was
heute
für ein Tag ist? Heute ist doch der 22. November, und das ist
mein
Geburtstagsgeschenk!" Der kleine Tag jauchzte. Endlich freute sich
jemand über ihn. "Für diesen Jungen bin ich der
Höhepunkt des ganzen Jahres", dachte der kleine Tag
glücklich. Mit neuem Eifer schaute er sich auf der Welt um.
Er sah
das Meer! Die Wellen klatschten gegen die Felsen am Strand, und die
Gischt sprühte schäumend auf. Es war ein wundervolles
Schauspiel, von dem sich der kleine Tag kaum losreißen
konnte.
Sein Blick streifte über die Berge. Ein Bergsteiger
mühte
sich keuchend, einen schneebedeckten Gipfel zu bezwingen. Als er oben
angekommen war, lachte er und genoß den weiten Blick ins Tal.
Der
kleine Tag freute sich mit ihm. Er sah viele Städte, und
verwundert schaute er den Menschen zu. Offenbar hatten die meisten
nicht viel Freude an ihrer Arbeit. Männer mit stumpfen
Gesichtern
betätigten Hebel, Knöpfe und Schalter. Sie stellten
Gegenstände her, deren Sinn und Zweck der kleine Tag nicht
verstand. In einer großen Halle standen lange Schlangen
wartender
Menschen. Sicher gab es dort etwas Besonderes! Aber nein: Wenn die
Menschen schließlich einen Schalter erreicht hatten, hinter
dem
ein streng blickender Mann saß, mußten sie viele
Kreuze in
kleine Kästchen auf Papierbögen machen und auch noch
Geld
dafür bezahlen. Der kleine Tag wunderte sich. In einem Park
saß ein Mann auf einer Bank und schrieb. Als er fertig war,
sah
er sich zufrieden lächelnd um. Er hatte bestimmt etwas
schönes geschrieben. Der kleine Tag freute sich. In einem
Fenster
stand ein Musiker und pfiff fröhlich eine kleine
neukomponierte
Melodie vor sich hin. Der kleine Tag hätte am liebsten
mitgepfiffen.
Der Nachmittag brachte ihm neue Erfahrungen: Spielende
Kinder, Leute beim Spazierengehen, Menschen, die sich zum
gemütlichen Kaffeetrinken zusammenfanden. Er sah einen jungen
Mann
an einer Haustür klingeln und ein hübsches
Mädchen
herauskommen. Die beiden faßten sich an den Händen
und
gingen in einen Park. Auf der Brücke über einen
kleinen Bach
blieb der junge Mann stehen und sah dem Mädchen in die Augen.
"Ich
hab' dich lieb!" sagte er und gab ihr einen Kuß. Dem kleinen
Tag
wurde ganz heiß vor Freude. Das war sicher das
allerschönste
Erlebnis für ihn hier auf der Erde. Als die Dämmerung
kam und
der kleine Tag seine Aufgabe erfüllt hatte, eilte er aufgeregt
nach Hause.
Alle Tage hatten sich schon versammelt und erwarteten
gespannt seinen Bericht. "Na, wie war's?" fragte ihn sein Vater, "bist
Du ein guter Tag gewesen?" "Oh ja!" rief der kleine Tag, und alle seine
Erlebnisse sprudelten wie ein Wasserfall aus ihm heraus. "...und dann
haben sie sich geküßt!" rief er am Schluß
seines
Berichts ganz atemlos und sah sich erwartungsvoll in der Runde um. Sein
Vater machte nur eine wegwerfende Handbewegung: "Na ja, das kennen wir
ja alle, aber nun erzähl mal die interessanten Dinge. Was hat
sich
denn nun wirklich ereignet?" Der kleine Tag starrte ihn fassungslos an.
"Aber..." stammelte er, "das ist alles. Das ist doch viel, oder?" In
den hinteren Reihen begannen einige ältere Tage zu lachen.
Schließlich lachten sie alle, die ganze Gesellschaft, bis der
kleine Tag in einer riesigen Woge von Gelächter zu ertrinken
drohte. "Was?" rief sein Vater aufgebracht, "es muß doch
wenigstens etwas passiert sein! Ein Schiffsunglück vielleicht?
Oder eine Flugzeugentführung? Wenigstens ein
Banküberfall?"
Der kleine Tag schüttelte den Kopf.
Einsam und traurig stand er
mitten in dem Gelächter. Sein schöner Tag! Und sie
fanden ihn
langweilig und alltäglich - nichts
Außergewöhnliches
war passiert war geschehen. Er hätte vor Scham versinken
mögen. "Nicht mal ein..." begann sein Vater noch einmal, aber
er
fragte nicht weiter. Der kleine Tag tat ihm leid. "Ein Nichts bist du!"
schrie der Onkel, der die Raumschifflandung auf dem fernen Planeten
erlebt hatte, "ein Nichts! Schon morgen hat man dich auf der Erde
vergessen! Kein Buch wird dich erwähnen, kein Mensch wird sich
an
Dich erinnern! Geburtstag! Sonne! Liebe! Daß ich nicht
lache!"
Ist Liebe denn nichts ungewöhnliches, Schönes? wollte
der
kleine Tag fragen - aber er traute sich nicht mehr. Er
fürchtete
die Hänseleien und den Spott der anderen. "Komm mit und ruh'
dich
aus", sagte der Vater und zog ihn fort. "Und ihr macht euch nicht
über meinen Sohn lustig!" rief er giftig den versammelten
Tagen
zu.
Die Mutter versuchte ihn zu trösten: "Sei nicht traurig. Du
bist ein guter Tag gewesen und hast sehr schöne Dinge auf der
Erde
gesehen. Weißt du, es kommt gar nicht darauf an,
daß
möglichst viele Menschen sich an einen Tag erinnern. Wenn Du
nur
ganz wenigen eine Freude geschenkt hast, dann hat sich dein Erdendasein
schon sehr gelohnt." Aber der kleine Tag war nicht zu trösten.
In
den kommenden Tagen und Wochen wurde er überall belacht und
verspottet. Er nahm auch nicht mehr an den abendlichen Versammlungen
teil. Er wollte nicht hören, was die anderen Tage zu berichten
hatten. Einsam saß er in seiner Ecke und machte sich bittere
Vorwürfe. Dabei war es doch gar nicht seine Schuld.
Eines Abends jedoch, viele einsame Tage, Monate später, riefen
ihn
seine Eltern: "Denk dir, einer deiner Neffen kam gerade von der Erde
zurück und hat berichtet, daß heute ein
Beschluß
gefaßt wurde, den 22. November zum internationalen Feiertag
zu
erklären. Und weißt du, warum? Weil an deinem 22.
November,
als du auf der Erde warst, nichts Böses geschehen ist, kein
Verbrechen verübt wurde, nirgendwo auf der Erde
Kämpfe waren.
Eben darum, weil nicht Ungutes passiert ist, soll von nun an jedes Jahr
an deinem Tag das Fest des Friedens gefeiert werden. Heute stand es auf
der Erde in allen Zeitungen. Ja, wir wußten doch immer,
daß
Du etwas taugst!"
Der kleine Tag sagte gar nichts. Er strahlte.