Grenzen
Kennst Du das: Du fühlst Dich missachtet und mit Füssen getreten, aber Dein Gegenüber fragt voller Unverständnis, warum Du eine Kleinigkeit denn so aufbauschen musst? Heute hat mir mein Mann eine solche Situation geschenkt. Erstaunliches konnte ich bei ihrer Bewältigung entdecken: ich habe 'eigene Grenzen' die beachtet und ausgedrückt werden wollen!
*
Es geschah mal wieder in der Zeit
des morgendlichen Käffchen trinkens; ich hatte gerade hingebungsvoll Schnee
geschippt und freute mich darüber, dass mein Mann schon wach vor dem Ofen lag,
als er plötzlich aufstand, in die Küche ging und mit einem Humpen voll Wasser zurück
kam. Er kippte das Wasser aus der Tasse in die auf dem Ofen stehende Glasschale.
Ich reagierte mit dem Satz ‚eigentlich sollte vorher der Kalk abgewaschen
werden’, den er mit dem Satz ‚Du musst es schon früher sagen, wenn Du von
mir was willst’ parierte.
Das war alles; nichts ungewöhnliches,
oder auffälliges – ein ganz normaler Schlagabtausch...
Ich fragte mich also, warum mir plötzlich jegliche Freude verloren gegangen war. Dann bemerkte ich, wie es in mir heftig
zu brodeln anfing. Diesem Impuls gab ich nach und stellte meinem Mann die
Gegenfrage, warum er es unterlassen hat mich vorher zu fragen, schließlich hatte
er bisher noch nie das Wasser aufgefüllt.
Oh, es waren wieder alle Elemente der allgemeinen Realität vorhanden. Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Kämpfe usw.; das kennen wir alle so gut. Hier beschreibe ich die Vorgehensweise und Ergebnisse unseres Aufarbeitens der Situation:
Allgemeine
Situationsbeschreibung
1) Der Standpunkt meines
Mannes: ich habe entdeckt, dass die Glasschale leer war und habe anders als
sonst den Wunsch verspürt sie mit Wasser zu befüllen. Warum sollte ich Dich
vorher um Erlaubnis fragen? Warum musst Du diese Kleinigkeit so aufbauschen?
2) Mein Standpunkt: ich
habe die Elemente zur Luftbefeuchtung kreiert und seither gepflegt. Ich war
anwesend und wurde von Dir ausgeschlossen/übergangen. Mehr noch, Du schiebst mir auf unterschiedlichste Weise
den ‚schwarzen Peter’ zu. Ich fühle mich dadurch missachtet und mit Füßen getreten.
Ich erinnerte mich
durch die
Argumentation meines Mannes an viele verlorene Kämpfe in meiner
Vergangenheit (Vater, Chefs...).
Damals war es mir unmöglich mein Empfinden in allgemein
nachzuvollziehende Worte zu kleiden. Deshalb definierte ich das im
Folgenden beschriebene Ziel.
3) Angestrebtes Ziel: Die
Worte zu finden, die mein Mann aufzeigen, warum die (in seinen Augen) Nichtigkeit
in meinen Augen eine Wichtigkeit ist und er sie als solche akzeptieren kann.
Wir begannen
unsere Sichtweisen
dem Gegenüber mitzuteilen. Dabei beschrieb mein Mann es als
persönlicher
Einschnitt in seine Freiheit, jedes mal fragen zu müssen, bevor er
etwas tun
wollte. Ja, das konnte ich gut nachvollziehen, das war 'normal'. Ich
fühlte dabei in mir fast wieder die Hoffnungslosigkeit aufsteigen
meinen Standpunkt jemals vertreten zu können. Bei von mir
erschaffenen Dingen, hatte
ich das Empfinden der Missachtung durch sein Tun und forderte deshalb
in sein
Tun einbezogen zu werden. Das ist rational nicht vertretbar und wirkt
'unnormal' (Lappalie, unnötiges Aufbauschen, unwichtig usw.). Was
gäbe ich für eine vertändliche Formulierung, die meine
Situation genauso exakt beschreiben konnte wie seine
('persönlichen Einschnitt in seine Freiheit')! Wie mir gerecht
werden???
Um zum definierten Ziel zu kommen
waren neue Perspektiven wichtig. Deshalb fragte ich zuerst meinen Mann, wie ich diese
Situation anders als missachtend sehen könnte. Er meinte er habe mir eine
Arbeit abgenommen und wenn ich die Situation so sehen könnte, das er es für
mich getan habe, währe Lebensfreude das Ergebnis.
Ja, das stimmt.
Das funktionierte bisher immer super. Jetzt ging es um die Erarbeitung
einer anderen Erkenntnis, dass fühlte ich genau. Deshalb konnte
ich damit ganz und gar
nicht einverstanden sein, denn in seiner Situationsbetrachtung (siehe
1.) und durch seinen Lösungsvorschlag würden meine
Empfindungen unterdrückt, anstatt gewürdigt. Genau dieses
Gefühl trieb mich ja auf die
Barrikaden. In meiner Vorstellungswelt hatte ich das
Hoheitsrecht/Urheberrecht
(siehe 2.) und hätte er dies respektiert, währe eine
entsprechende Frage das
Ergebnis gewesen.
Nachdem wir lange diskutiert und
gekämpft hatten, viel mir eine fühlbare Schwere auf. Das teilte ich meinem Mann
mit und fragte ihn, ob auch er Lust darauf habe, die restliche Zeit des
Prozesses in Freude und Leichtigkeit zu erleben. Er meinte zwar, das viele
unserer Prozesse in Schwere und Schmerz bearbeitet würden, aber ich machte
deutlich, dass wir jederzeit die Wahl hätten, dies zu ändern.
Danach
wurde es leichter. Mir fiel das Beispiel eines Alkoholikers ein:
Legt man einem Alkoholiker der gerne und viel Bier trinkt nahe,
am Tag nur fünf Biere zu trinken, ist es für ihn ein schwerer Einschnitt in
die persönliche Freiheit. Aus der Perspektive eines ‚normalen’ Menschen
sind fünf Bier eine ganze Menge. Es ist ganz egal, welche Worte benutzt werden,
für den Alkoholiker wird es immer eine heftige Einschränkung bleiben, nur fünf
Biere trinken zu dürfen.
Mit diesem Beispiel gelang es mir meine Bedürfnisse und die meines Mannes gleichzustellen. Bis dahin war ich geneigt seine persönliche Freiheit höher zu werten als meine nach Beachtung rufenden Gefühle. Die in diesem Beispiel angewandte krasse Grenzüberschreitung gab mir den entscheidenden Hinweis: Genau so verhält es sich mit noch unsichtbaren persönlichen Grenzen. Für ‚normale’ Menschen ist es ein Einschnitt der persönlichen Freiheit, wenn ein geliebtes Wesen zum ersten mal auf die Achtung seiner Grenze hinweist. Dies ist ein Konflikt!
Es ist sehr wichtig, dass das geliebte Wesen auf seine persönliche Grenze
hinweist. Meistens ist es so, das die Grenze für den
Anderen bis zu diesem Zeitpunkt unsichtbar ist. Der Andere hat erst jetzt die freie Wahl, ob er diese Grenze respektieren, oder übertreten will.
Nun ist es mehr als deutlich, warum für mein Mann die Situation einer Kleinigkeit entsprach – für ihn war meine Grenze unsichtbar. Auch mein Standpunkt der Wichtigkeit ist nun klarer zu erkennen, es ist meine Aufgabe, auf meine persönlichen Grenzen hinzuweisen. Ja, ich habe ein Recht darauf (Grund), wenn meine Grenzen missachtet werden, mir und meinem aktuellen Sein entsprechend, zu reagieren.
Der Unterschied liegt darin, dass mein Gegenüber jetzt nachvollziehen kann, warum ich die Situation in seinen Augen aufbauschen musste - eine meiner persönlichen Grenzen wurde übertreten.So lange hat es gedauert meinem Empfinden Worte zu verleihen, um mein Sein in der allgemeinen Realität vertreten zu können; dank der heutigen Situation kann ich endlich dem ‚Kind’ einen Namen geben: "meine persönliche Grenze"!
*
Ab heute weis ich
um die tatsächlich
vorhandene Wichtigkeit meines Empfindens. Egal, ob es aus einer
'Wunde', einem Verhaltensmuster o.ä. entstand - es drückt
mein aktuelles Befinden aus. All meine Selbstzweifel bezüglich der
von
Anderen kommunizierten Nichtigkeit/Lappalie dürfen jetzt gehen.
Ich werde meine
Grenzen bemerken, sie (und damit mich und meinen aktuellen Ausdruck)
liebevoll annehmen und in Klarheit meiner Umgebung
mitteilen und vertreten.
Aus der
Liebe zu Allem-Was-Ist
Brigitte